Dass die 2018 gegründete Band Boygenius auch als „Supergroup“ bezeichnet wurde, war anfangs vielleicht etwas übertrieben. Jedoch konnten mittlerweile sowohl Phoebe Bridgers als auch Julien Baker mit ihren beiden letzten Alben, „Punisher“ (2020) bzw. „Little Oblivions“ (2021), erstmals an den Top 40 der US-Charts kratzen (#43 bzw. #39) und auch das erste Mal die Charts in Deutschland (#39 bzw. #37) und England (#6 bzw. #51) erreichen. Dieser Schritt steht für die dritte im Bunde, Lucy Dacus, noch aus, könnte aber nun mit „Home Video“ erfolgen. Damit dies gelingt, stehen ihr Bridgers und Baker auf „Going Going Gone“ und „Please Stay“ stimmlich bei.
Stilistisch ist Lucy Dacus vielschichtiger aufgestellt als bei ihrem Vorgänger „Historian“ (2018). Zwar gibt es weiterhin gitarrigen Alternative Rock („First Time“) mit gelegentlichen Krach-Ausbrüchen („VBS“), aber auch zarte Balladen zum Piano („Christine“), schlichten, akustischen Folk („Cartwheel“, „Going Going Gone“), ein Experiment mit bollernden Beats und AutoTune („Partner In Crime“) und „Thumbs“, das sogar acapella gut funktionieren würde, hier aber mit schwer greifbarem Synthie-Gewaber unterlegt wurde. Das Highlight wird bis zum Schluss aufgehoben: das knapp achtminütige, sehr dynamische „Triple Dog Dare“ mit seiner einprägsamen Corda.
„Home Video“ ist als CD und LP erhältlich. Schallplattenfreunde haben in den limitierten Auflagen die Wahl zwischen Blue Transparent Vinyl, Pink Cloud in Blue Vinyl, Clear Vinyl und Pink/Blue Marble Vinyl.
Aber zumindest in einer Sache können sich Dacus und Bridgers die Hand geben. Denn in „Thumbs“ verpackt Dacus ebenso meisterlich sinistre Textzeilen in wohlige Klänge wie Bridgers.„I imagine my thumbs on the irises / Pressing in until they burst (…) I would kill him / If you let me” proklamiert Dacus über seichtem Synthie-Teppich ihre Phantasien über den Vater einer Freundin mit einer Ruhe, die einen an Hannibal Lecter erinnert, der zu feinster klassischer Musik die Innereien seiner Opfer verspeist.„Thumbs“ demonstriert, wie wenig Lucy Dacus braucht, um einen komplett in ihren Bann zu ziehen.Thematisch tritt Lucy Dacus mit „Home Video“ eine Reise in die Vergangenheit an. Dabei findet sie immer die richtigen Worte, ohne zu verklären:„You used to be so sweet / Now you’re a firecracker on a crowded street“ heißt es beispielsweise in Opener „Hot & Heavy”, mit dem Dacus den perfekten Soundtrack für die offenen Fenster auf der nächsten Heimreise ins Jugendzimmer liefert.
Fernab dieser zwar nicht unmodernen, doch geerdeten Produktionen blickt „Home Video“ vor allem in der textlichen Auseinandersetzung auf alte Zeiten zurück. Der bereits angesprochene Albumeröffner „Hot & Heavy“ etwa vertont das eindrucksstarke Gefühl, das die Rückkehr an bedeutsame Orte der eigenen Sozialisation weckt. „VBS“ wirft den Blick noch weiter zurück und reflektiert in christlichen Jugendcamps gesammelten Erfahrungen – und Liebschaften. Das niedliche „Going Going Gone“ wiederum ist in gleich zweifacher Weise nostalgisch: In der Thematisierung einer frühen Jugendliebe zum einen, und im Chorus-Choral mit den Boygenius-Kolleginnen zum anderen. Und auch im klaviergetragenen „Please Stay“ findet sich der Baker–Bridgers-Choral zusammen.
Lucy Dacus (möglicherweise) in Deutschland:
31.03.22 Köln, Artheater
02.04.22 Hamburg, Molotow
09.04.22 Berlin, Lido
10.04.22 Jena, Trafo
13.04.22 München, Milla
7 Punkte
AntwortenLöschen7,5 Punkte
AntwortenLöschen"Home Video" sehe, äh, höre ich mir zuhause gern an. 7 Punkte
AntwortenLöschenDas nenne ich mal ne klare Tendenz
AntwortenLöschen7,5