Heute gratulieren wir Mark Hollis, Lee Harris und Paul Webb zum 35. Geburtstag ihres Albums "It's My Life". Grund genug, u...

Revision: Talk Talk


Heute gratulieren wir Mark Hollis, Lee Harris und Paul Webb zum 35. Geburtstag ihres Albums "It's My Life". Grund genug, um in unserer Rubrik "Revision" (nach Morrissey, U2The Smashing Pumpkins und a-ha) auf das Schaffen von Talk Talk zurück zu blicken. 


The Party’s Over 

1982, EMI (9 Songs, 36:47)



Dirk: 6,5 Punkte
Wie nahezu alle Pop-Fans in Deutschland habe ich „The Party’s Over“ verpasst. Das Album erreichte im Vereinigten Königreich Platz 21 und die Singles „Today“ und „Talk Talk“ die Ränge 14 bzw. 23 - bei uns nahm man so wenig Notiz, dass Talk Talk den Charts noch fern blieben. Zu meiner Entschuldigung: Ich war damals mit 11 Jahren noch recht jung.
Beim verspäteten Entdecken ihres Debütalbums stelle ich überrascht fest, wie sehr Talk Talk anfangs im Synth-Pop verwurzelt waren (bestes Beispiel: „Another World“) und wie deutlich sie damals noch nach Duran Duran klangen (treffendes Beispiel: „Have You Heard The News?“). Dies mag einerseits an ihrem vierten Bandmitglied (Simon Brenner an den Keyboards) gelegen haben, andererseits ist es vielleicht ihrem damaligen Produzenten Colin Thurston geschuldet, der auch die ersten beiden Alben von Duran Duran produziert hatte.      


Ingo: 7 Punkte
Für mich gelten Dirks Entschuldigungen und die Tatsache, dass ich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erst kurz vor meiner Einschulung stand. Pop-Fan bin ich bis heute nicht, aber mit dem Wissen, dass Talk Talk nie dumpfen Pop gemacht hat, kann ich “The party’s over” durchweg genießen. Einige Songs ließen durchaus durchblicken, dass Talk Talk Potential hat und Ideen hat. “Today” und “Talk Talk” sind Hits, das Album zeigt keinen Ausfall. 


Oliver: 8 Punkte
1982 lag mein musikalischer Fokus (wenn überhaupt) größtenteils noch auf deutschsprachiger Popmusik. Talk Talk hatte ich zu dieser Zeit wohl noch nicht auf dem Schirm. Vermutlich hörte ich „The Party’s Over“ zum ersten Mal bei Volker, bei dem ich mir regelmäßig seine neu erworbenen Platten auf Kassette kopierte. Und wahrscheinlich auch erst, als die zweite Platte rauskam, …


Volker: 7 Punkte
Ich meine mich zu erinnern, dass ich damals über “Another Word”, das in irgendeiner deutschen Krimi-Serie verwendet wurde, zu diesem Album kam.
Insgesamt noch deutlich austauschbarer und tiefer im Synth-Pop verwurzelt als später, hat
es auch noch nicht annähernd den typischen charismatischen Gesang von Hollis integriert
(“Have You Heard The News” lässt schon mal erahnen, wo es hingehen wird). Ein paar schöne Tracks z.B. “Talk Talk”, “Today” oder oben erwähntes “Another Word” waren aber dennoch schon am Start.


Gesamturteil: 7,125 Punkte





It’s My Life 

1984, EMI (9 Songs, 43:26)



Dirk: 8 Punkte
Vielleicht war „Such A Shame“ im Frühjahr 1984 meine erste selbst gekaufte Single - leider weiß ich es nur bei den Alben („Waking Up With The House On Fire“ von Culture Club im Oktober/November ’84) noch genau. Mit Sicherheit ist aber „Such A Shame“ einer meiner meistgehörten Songs, da er auch 35 Jahre nach seiner Veröffentlichung nichts von seinem Glanz eingebüßt hat. 
Talk Talk lassen auf „It’s My Life“ den klassischen Synth-Pop ihres Debüts hinter sich (auch wenn mich „The Last Time“ ein wenig an O.M.D. erinnert) und erhalten durch Tim Friese-Greene (Produktion, Piano, Synthesizer, Songwriting), der nie als vollwertiges viertes Mitglied im Lineup auftauchen sollte, aber die Band fortan begleitet, eine neue Tiefe, die sich auch darin zeigt, dass drei Songs in die Nähe der 6-Minuten-Marke oder darüber hinaus wandern. „Dum Dum Girl“ und „It’s My Life“ waren zurecht weitere Hitsingles, „Renée“ deutet bereits an, was später folgen sollte.  


Ingo: 9,5 Punkte
Vermutlich war “Such a shame” der erste Song, den ich von Talk Talk hörte. Natürlich ist er durchgenudelt und ein Stück weit durch die Verwendung auf wahrscheinlich allen 80er Jahre-Samplern gebrandmarkt. Aber der Beginn des Titels verursacht bei mir noch heute Gänsehaut. Es ist einer der “Signature Songs” der Band und für Mark Hollis’ Stimme. Der Titel des Albums ist gut gewählt, denn eigentlich ist es ein Konzeptalbum, welches den Makrokosmos der Band in einer knappen Dreiviertelstunde einfängt und zum besten gehört, was in den 80er Jahren aufgenommen und veröffentlicht wurde. 


Oliver: 8 Punkte
…denn „It’s My Life“ warf mit „Such A Shame“ und dem Titelsong zwei Radio-Hits ab, die mein 13-jähriges Ich, das jetzt auf einmal mehr auf englischsprachige Popmusik stand, auf ungefähr jedem Mixtape hatte, das aus dem Radio aufgenommen wurde. Da musste ich mir natürlich die beiden Platten kopieren. Danke Volker! Musikalisch war das für mich zu dieser Zeit noch typischer Synthie-Pop, den es wie Sand am Meer gab. Welche Wege Mark Hollis noch gehen würde, ahnte ich da noch nicht.


Volker: 10 Punkte
Meiner allererste selbst gekaufte LP! Dies wirkt sich natürlich auch auf die Betrachtung des Albums aus. Aber auch ohne diesen Bonus muss man konstatieren, im Jahr 1984 kam man als Jugendlicher an “Such A Shame” und “Dum Dum Girl” eigentlich nicht vorbei. Gleichzeitig war aber in Songs wie “Renee”, “Tomorrow Started” oder “Does Caroline Know” schon ganz klar verwurzelt, was den Erfolg der späten Talk Talk (und dann auch bei der “ernsthaften” Musikkritik) ausmachen sollte. Für mich wird dieses Album aber, natürlich auch auf Grund der eigenen Biographie, in seinem Mix der Höhepunkt des Bandschaffens bleiben.


Gesamturteil: 8,875 Punkte





The Colour Of Spring 

1986, EMI (8 Songs, 45:40)



Dirk: 9 Punkte
Die Synthesizer sind nahezu komplett verschwunden, statt dessen hören wir Orgel, Mellotron, Variophon, Harfe oder einen Chor. Die Songs werden weniger, dafür länger und behalten dennoch ihre Pop-Song-Struktur sowie die prägnanten, eingängigen Refrains („I Don’t Believe In You“, „Life’s What You Make It“, „Living In Another World“) bei. 
Anfangs habe ich mich etwas schwer mit „The Colour Of Spring“ getan, aber Dank der steten Bemühungen eines anderen Plattenrichters (der sicherlich am Ende die höchsten Bewertungen in dieser Revision vergeben haben wird) ist mir das Album ans Herz gewesen und meine liebste Platte von Talk Talk geworden.       


Ingo: 9 Punkte
“Life’s what you make it” und das zugehörige Video stehen bei mir auf einer Stufe mit “Such a shame”. “Living in another world” und “Give it up” sind weitere Highlights auf diesem Album, welchem keine Pop-Vermutung mehr anhaftet. Eigentlich wäre “The party’s over” der passende Titel für dieses Album geworden. Kunst statt Party.


Oliver: 8,5 Punkte
Nicht, dass ich Mark Hollis‘ zukünftige Wege 1986 erahnt hätte. Eigentlich habe ich das erst nach seiner aktiven Phase richtig zu schätzen gelernt, als nämlich 1999 das Live-Album „London 1986“ erschien und mir ein Kollege aus dem Plattenladen, in dem ich zu der Zeit arbeitete, einen umfangreichen Crashkurs zum Thema Mark Hollis (und als Zugabe auch noch David Sylvian) auferlegte. 1986 waren Talk Talk für mich noch eine Singles-Band - beim Album geht es mir wie Dirk: In meinem Ohr ist es erst im Laufe der Zeit zu dem gewachsen, was es wirklich ist.


Volker: 9 Punkte
Es geht weiter weg vom Pop in Richtung Atmosphäre und Soundästhetik. Durch Reduktion anderer Parts, rückt dadurch auch Hollis’ Stimme, die für mich eine der Beeindruckendsten in der Musikszene bleibt, immer mehr in den Mittelpunkt. Trotzdem gab es tatsächlich noch den ein oder anderen Single-“Hit”, inklusiver verstörender Videos, was ich im Nachhinein als wirklich erstaunlichstes Phänomen des Album betrachte. Die Lieder wurden länger und teilweise nahezu karg. Mein absoluter Höhepunkt “April 5th”, welches auch wieder (siehe die Vorgängeralben)  andeutet, wohin die Reise (weiter)geht.


Gesamturteil: 8,875 Punkte





Spirit Of Eden 

1988, EMI (6 Songs, 41:30)



Dirk: 6,5 Punkte
Endlose Aufnahmesessions, teilweise improvisiert und zeitweise im Dunkeln, Einflüsse aus Jazz, Ambient und Klassik aus denen dann irgendwie 6 „Songs“ herausgeschält wurden. Da kann man nachvollziehen, dass die Plattenfirma, die Talk Talk keine Budgetbegrenzung für die Aufnahmen auferlegte, nach den kommerziellen Erfolgen von „The Colour Of Spring“ enttäuscht war. Talk Talk gingen nicht auf Tour, weil „Spirit Of Eden“ für sie live nicht reproduzierbar war, die Plattenfirma veröffentlichte gegen den Widerstand der Band eine gekürzte Fassung von „I Believe In You“ als Single - die floppte - und auch das Album spielte in den Charts keine große Rolle. EMI und Talk Talk sahen sich letztendlich vor Gericht wieder und nach „Spirit Of Eden“ wechselte das Trio zu Polydor. 
Auch wenn sich mir „Spirit Of Eden“ bis heute noch nicht erschlossen hat (es gibt ungefähr 1 Minute in „The Rainbow“, die mir gefällt und sich bei mir fest setzen kann und „I Believe In You“ hätte man auch auf „The Colour Of Spring“ unterbringen können), gilt es als Wegbegründer des Post-Rock, wird in vielen Kritiken hoch gelobt und von zahlreichen Künstlern als Einfluss genannt. Um den größten Talk Talk-Fan unter den Plattenrichtern nicht zu verärgern, schließe ich mit den Worten von Alan McGee (Creation Records): Spirit of Eden has not dated; it's remarkable how contemporary it sounds, anticipating post-rock, The Verve and Radiohead. It's the sound of an artist being given the keys to the kingdom and returning with art. 


Ingo: 8 Punkte
Der Bruch mit allen Erwartungen und vielen Konventionen. Talk Talk hat sich mit keinem Album wiederholt und mit “Spirit of Eden” zumindest in künstlerischer Hinsicht einen starken Abgang vorbereitet. Einen Tick weitere drehte Mark Hollis diese Schraube noch mit seinem Solo-Werk. Ach ja, und mit dem folgenden “Laughing stock”. “The rainbow”, “Eden” und “Desire” lassen sich zweifellos Zeit, aber sie offenbaren dem geneigten Hörer eine subtile Dynamik, die ihresgleichen sucht. Die wohl dosierten Ausbrüche sind fantastisch. In der zweiten Hälfte lässt “Spirit of eden” etwas nach.  



Oliver: 9 Punkte
Ich vermute, dass ich dieses Album zum ersten Mal im Zuge des bereits erwähnten Crashkurses gehört habe. Also 11 Jahre nach der Veröffentlichung. Radiohead hatten zu dieser Zeit schon drei Platten veröffentlicht, das Debut-Album von Elbow war noch zwei Jahre entfernt. Zwei von unzähligen Bands, die ich sehr schätze und die von Talk Talk mindestens genauso begeistert sind wie Volker. Noch nicht ganz so „aus der Zeit“ wie das Album, das noch folgen wird, aber wenn es so etwas wie eine zeitlose Platte gibt, dann ist es diese.


Volker: 10 Punkte
Talk Talk als Platte des Monats im Musikexpress, das war schon etwas, das man damals getrost als ungewöhnlich bezeichnen konnte (selbst wenn man zugestehen muss, dass das Magazin zu dieser Zeit noch nicht annähernd so fest gefahren war in seinen Vorlieben, wie es heute der Fall ist). Und dann mit einem, im ersten Moment, so sperrigen Album. Einzelne Tracks werden zwar aufgeführt, aber wirklich erkennen, wann der eine aufhört und der andere beginnt, kann man es selten. Alles ist im Fluss, die Töne stehen im Raum und füllen diesen. Keiner dieser Töne ist zu viel, die Stimme mittlerweile fast eher ein weiteres Instrument, als ein Mittel zum Vortragen eines Textes. Nach Synthies, Pop, Ambientstrukturen haben nun auch noch Jazz-Elemente in der Musik Einzug gehalten. Ein Gesamtkunstwerk, hat mich damals weggeblasen, und tut es auch heute noch. Auf eine andere Art mein zweites Lieblingsalbum von Talk Talk.


Gesamturteil: 8,375 Punkte





Laughing Stock 

1991, Verve Records (6 Songs, 43:29)




Dirk: 5 Punkte
Paul Webb steigt aus, Talk Talk finden bei einem Jazz Label (Verve Records) eine neue Heimat und treiben die bei „Spirit Of Eden“ herrschenden Aufnahmebedingungen auf die Spitze. „Laughing Stock“ ist ein Gesamtkunstwerk, das sich weniger in 6 Songs, als in 6 Teile untergliedern lässt. Kolportiert wird, dass 80% der Aufnahmen keine Verwendung fanden. Plattenkäufer und -kritiker waren weniger begeistert als noch bei „Spirit Of Eden“, Musiker sind von „Laughing Stock“ häufig noch berauschter. Zu letzterer Gruppe gehöre ich leider definitiv nicht.


Ingo: 6,5 Punkte
Es ist so ein wenig wie mit der Homöopathie: Wirkt es nicht, nimmt man noch weniger. Wem “Spirit of eden” also noch zu greifbar und poppig ist, der höre eben “The laughing stock”. Fernab konventioneller Songstrukturen operiert die Band. Die Instrumentierung lässt natürlich immer mal wieder an Jazz denken, aber Mark Hollis Gesang ist die Klammer, die auch “Laughing stock” mit dem Gesamtwerk der Band verbindet. Und eben diesen Gesang, wenn auch sehr sparsam eingesetzt, finde ich auf diesem Abschiedsalbum nicht minder ergreifend und mitreißend als auf den früheren Platten. “Myrrhman” geht als herausfordernder Start durch, “Ascension day” und “After the flood” sind die zugänglichsten Tracks auf “Laughing stock” und danach wird es etwas anstrengend. Aber nicht so anstrengend, dass mein Streaming-Anbieter dieses Album als einziges Album der Band nicht im Angebot haben dürfte. An der Qualität des Albums kann es nicht liegen.  


Oliver: 7,5 Punkte
Volker wird sich vermutlich die Haare raufen wenn er das liest, aber „Laughing Stock“ habe ich tatsächlich zum ersten Mal gehört, als es hieß, dass wir im Februar eine Talk Talk Revision machen wollen. Entwickelt sich musikalisch wahrscheinlich noch mal weiter, mir persönlich fehlt allerdings die Intensität bzw. Dichte (wenn man da überhaupt von Dichte reden kann) des Vorgängers.


Volker: 7,5 Punkte
Tja, was sollte nach “Spirit Of Eden” noch kommen? Wie oben erwähnt, war eigentlich in jedem Album von Talk Talk die Entwicklung für den Nachfolger schon impliziert, dieses Mal kann man das so nicht sagen. “Laughing Stock” ist für mich leider ein Versuch des Ähnlichen auf deutlich schwächerem (für Bandverhältnisse) Niveau. Vielleicht war ich auch nur so fasziniert vom Vorgänger, dass dieses Album zum Enttäuschen prädestiniert war. Das rede ich mir zumindest gerne ein. Im Endeffekt hat das Album nicht den Flow und nicht mich auch einfach nicht so richtig “gefangen”.  Dennoch bleiben DIESE Stimme und immer noch wundervolle Passagen wie in “Ascension Day” und am Ende Jammern auf ganz hohem Niveau. Der Rest war Schweigen respektive ein Solo-Album von Mark Hollis, das dem Schweigen verdammt nahe kam. 
Mark, wherever you are, thanks for the music and don’t be a stranger...


Gesamturteil: 6,625 Punkte



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