Ein Album namens „autres directions“ und familiäre Bande sorgen dafür, dass für die heutige Plattenvorstellung eine andere Richtung einges...

Joerg Nawra - autres directions


 

Ein Album namens „autres directions“ und familiäre Bande sorgen dafür, dass für die heutige Plattenvorstellung eine andere Richtung eingeschlagen wird.

PVG: Fast pünktlich zu Beginn der zweiten Lebenshälfte erscheint dein erstes Album - warum hat es so lang gedauert, Joerg?

Joerg: Ich hatte fast zehn Jahre keine Gitarre in der Hand und habe mich in der Zeit fast ausschließlich mit elektronischer Musik beschäftigt. In den letzten drei oder vier Jahren habe ich langsam wieder angefangen Songs zu schreiben. Irgendwann stand der Gedanke an ein Album einfach im Raum, also hab ich eins gemacht.

Ich habe zuhause ein kleines Studio, kann hier komplett in Eigenregie aufnehmen und dank digitaler Vertriebswege auch ohne Label im Rücken Musik veröffentlichen. Das macht so eine Produktion grundsätzlich einfacher, als wenn man Musiker finden, ein Studio mieten und die vielen unterschiedlichen Teile der Produktion in viele unterschiedliche Hände geben muss. Das wäre bis vor ein paar Jahren in der Form noch gar nicht möglich gewesen und mir hätten auch die musikalischen Fähigkeiten gefehlt. Bei „autres directions“ habe ich ja quasi jeden Ton selbst eingespielt.

PVG: Wurden für „autres directions“ auch ältere Songs aus der Schublade geholt?

Joerg: Ich habe letztes Jahr drei Singles rausgebracht, die auch mit auf dem Album sind. Das Stück „Nach Zweifeln irgendwie“ war ein Entwurf, der seit 2017 herumlag und den ich bei der Produktion des Albums zufällig wieder fand. Der Rest entstand zwischen November 2021 und Februar 2022.  

PVG: Wie merkt man, dass ein Album fertig ist und wann hattest du diesen Punkt - wenn überhaupt - erreicht?

Joerg: Im Fall von „autres directions“ war es ja nicht so, dass ich eine bestimmte Anzahl Songs hatte, mit denen ich dann ins Studio gegangen bin, sondern die meisten Songs sind erst während des Produktionsprozesses entstanden. Ansonsten wäre der Rahmen im Vorfeld schon komplett abgesteckt gewesen. 
Ich hatte Ende Februar 15 Songs fertig, von denen es am Ende 11 auf das Album geschafft haben, und habe dann angefangen zu puzzeln: Mit welchem Song fängt das Album an, mit welchem hört es auf, welche Songs funktionieren nacheinander, welche passen nicht ins Gesamtbild? Und irgendwann fühlte sich das einfach rund an. Natürlich hätte ich auch noch die nächsten Monate weiter Songs schreiben und aufnehmen können, aber irgendwann muss ja auch mal Schluss sein. 

PVG: Als ich „Sie trinkt Kaffee, er trinkt Tee (das eigentliche Thema)“, das mich an „Busfahrt“ von Erdmöbel erinnert, erstmals hörte, wurde der Text noch von dir gesprochen - das ist auf der finalen Version nun anders. Wer ist, außer dir, auf dem Album zu hören?

Joerg: In der finalen Version spricht Tom Liwa den Text, was auch total sinnvoll ist, da der Song aus einer beobachtenden Perspektive heraus erzählt. Die dritte Person findet auf dem Album ja ansonsten gar nicht statt. Neben Tom, der zudem auch noch Keyboard bei „Ich heiße Luca“ gespielt hat, ist auch Nina Kränsel, die u.a. bei Miles und Crash Tokio gespielt hat, mit an Bord. Nina singt bei zwei Songs mit und spielt einmal Glockenspiel. 


 


PVG: Apropos Tom Liwa: „Brandstifter“ ließ mich direkt an Flowerpornoes denken. Gibt es, neben der schönen Referenz an Suzanne Vega im Song „Ich heiße Luca“, noch weitere versteckte Parallelen oder heimliche Huldigungen?

Joerg: „Brandstifter“ sollte eigentlich nach Bob Mould klingen, aber tatsächlich passt der Flowerpornoes-Vergleich bei dem Song sehr gut, weil die Art der Erzählung ähnlich ist. 
Die wohl größte aber gleichzeitig auch unauffälligste Referenz ist der Albumtitel. Auf dem Inlay des Flowerpornoes-Albums „Ich & Ich“ ist ein Autobahnschild zu sehen, das zwei Richtungen anzeigt: nach St. Amour (was auch der Titel von Tom Liwas erstem Soloalbum war) und eben  „autres directions“.


 


PVG: „Flaches Wasser, dünner Kaffee“ bietet nach einem kurzen Break noch einen eben so tollen wie überraschenden Gitarren-Ausbruch à la Dinosaur Jr. - eine weitere bewusste Referenz? 

Joerg: In dem Song geht es um deutschsprachige Popmusik im Radioformat - und dieses Format musste ich schon zeitlich sprengen. Anderthalb Minuten Gitarrensolo boten sich da einfach an. Ich bin großer Fan von J Mascis und habe da auch versucht, seinen Gitarrensound zu replizieren.   

PVG: Welches Lied von „autres directions“ würdest du für ein Mixtape auswählen und zwischen welchen beiden Songs anderer Künstler würdest du es platzieren?

Joerg: Ich würde „Lass uns nicht aufhören, sonst müssen wir darüber reden“ wählen und als Referenz zwischen „Tunic (Song for Karen)“ von Sonic Youth und „2 oder 3 Dinge, die ich von dir weiß“ von Blumfeld platzieren.

PVG: Eine eingängige Catchphrase, ein prägnantes Gitarrenriff und Streicher am Ende (die für mich gern noch dominanter hätten sein können) - mein persönlicher Favorit ist schnell gefunden und trägt den etwas kryptischen Titel „GK“. Endlich ein Song über das Gauß-Krüger-Koordinatensystem?

Joerg: Tatsächlich war die Lautstärke der Streicher ein großes Thema. Bombastisch im Vordergrund klangen die total geil, haben aber diese Lou Reed-mäßige Schwere, die den Song ausmacht, aufgebrochen. Also mussten sie weiter nach hinten. Wofür genau „GK“ steht, weiß ich selbst nicht mehr so genau.

PVG: Im Text zu Kettcars „Im Taxi weinen“ heißt es „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint/ in Empfindsamkeit vereint/ ein befindlichkeitsfixierter Aufstand/ hetero und männlich, blass und arm/ weil wir bleiben, wie wir waren …“. Mit dem Begriff „befindlichkeitsfixiert“ können deine Texte auch gut umschrieben werden…

Joerg: Ich schreibe schon sehr persönlich, das stimmt wohl. 
Es gibt da so eine Grenze des Erzählbaren, die ich an manchen Stellen im Album auch überschreite. Stücke wie „GK“ zum Beispiel kann man sich ja nicht ausdenken.  
Der erste Song des Albums,. „Karaoke“, enthält die Textzeile „Und diesen Teil der Geschichte kann ich nicht mit euch teilen. Denn was ich noch zu sagen hätte, sag ich nur dir ganz allein“.  Da gibt es also bei aller Befindlichkeitsfixierung immer noch eine Abgrenzung. 


  


PVG: Kannst du uns etwas zum Plattencover erzählen?

Joerg: Das Covermotiv ist ein Bild der Malerin Violetta Richard, deren Arbeiten ich sehr gerne mag. Als ich fragte, ob ich das Bild für das Album verwenden dürfe, war erst mal gar nicht klar, wo genau sich das Bild überhaupt befand. Es musste also erst mal die Besitzerin herausgefunden und kontaktiert werden, die dann glücklicher Weise auch ihre Zustimmung zur Nutzung gab.  Um das eigentliche Coverdesign hat sich mein Freund Marcus gekümmert, der mir in Grafikfragen schon seit vielen Jahren zur Seite steht.  

PVG: Apropos Platte: „autres directions“ gibt es ab heute auf den üblichen Streaming-Plattformen - aber ist auch eine physische Veröffentlichung geplant?

Joerg: Als ich mit der Planung des Albums begann, lief gerade die Antragsfrist für den Fördertopf „Neustart Kultur“ aus. Wäre ich etwas früher dran gewesen, hätte ich versucht, über das Programm eine Vinylauflage des Albums zu finanzieren. Wobei dann auch das Releasedate weit in die Ferne gerückt wäre.  Bei den Presswerken muss man ja mit etwas Pech ein halbes Jahr auf einen Termin warten. 
Von der Idee, ein Album aufzunehmen, bis zur Veröffentlichung waren es jetzt letztendlich keine sechs Monate - und das finde ich schon auch ganz cool, quasi in Echtzeit Musik veröffentlichen zu können. Auch wenn man dann erst mal keinen physischen Tonträger in Händen hält.



5 Kommentare:

  1. Yeah, endlich wieder Kiosko und Simca Vibes (auch wenn vielleicht nur ich mich gern zurück erinnere?). Gefällt mir (wie zu erwarten) sehr gut.

    8
    Und falls doch noch Vinyl kommt, einen Abnehmer hast du sicher.

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  2. Ich schließe mich in allen Punkten Volker an.

    8 Punkte

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  3. Auch ich hatte sofort Kiosko im Kopf. Im direkten Vergleich lande ich bei 7 Punkten. Die Messlatte der Vergangenheit liegt eben hoch. Aber wie Jörg im Hinblick auf die Wertung in einem anderen Musikmagazin angemerkt hat: Dann sind 7 Punkte eben die Höchstwertung. ;-)

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  4. Die neue EP "Land + Jahrzehnt" lässt mich hier nachlegen. 7,5 Punkte

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