Es war einmal eine unbetitelte Platte, die wollte "das rote Album" genannt werden und den Menschen einen Anstoss geben in schwierigen Zeiten sein. Mehr noch als eine simple Langspielplatte war sie ein wütender, rockender Aufschrei, ein sozialistsches Manifest, welches Marx, Engels und Billy Bragg gut geheißen hätten.
So stand sie am 01. Mai in den Plattenläden und wartete dort auf ihre Käufer und wartete vergebens. Denn diese kamen nicht, schwenkten weder rote Fahnen noch riefen sie Parolen, nicht die alten und schon gar nicht die neuen von Dirk, Jan, Arne und Rick. Den Tag der Arbeit verbrachten nämlich die Käufer mit ihren Lieben und Familien. Auch die Plattenladenbesitzer und ihre Mitarbeiter.
Das hatte "das rote Album", da es noch so neu und naiv war, nicht kommen sehen und letztendlich vollkommen falsch interpretiert. Vergrämt und enttäuscht entschied es sich daher, die Menschen nicht aufrütteln zu wollen, sondern ihnen ein Wohlgefallen zu sein. Packender, mitreißender Gitarrenrock wurde des nachts zu einschmeichelnden, sanftmütige, zugängliche Melodien, vorgetragen von akustischen Gitarren, Synthesizern und Streichern. Aus sozialkritischen Texten wurden wie durch Zauberhand poetische, romantische Lyrics über die Liebe, Träumereien und Beziehungen. Let there be Pop! Wohin man auch hörte.
Und als am nächsten Tage die Plattenläden öffneten, da strömten die Menschen hinein, herzten "das rote Album" und lobpreisten es. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklicher und zufriedener als je zuvor.
Diesmal begegnen uns die alten Slogans für die Jugendbewegung – wenn überhaupt – nur noch als vage Spiegelungen aus einer fernen Welt: „Ich werde nicht gebraucht. Die Zukunft gibt es nicht“, hallt in „Rebel Boy“ eine Punkparole nach. No Future. Immer noch. Auch in der fernen Geisterlandschaft von „ Prolog“ spürt man die „Gifte im System“ noch, will aber eigentlich „ nur den Abend überstehen“ oder, wie in „Chaos“, am liebsten gleich, „gehetzt von Geistern und Ideen“ unter die Bettdecke der Liebsten fliehen. Zitierfähig bleiben Tocotronic-Zeilen dennoch: „Bitte nicht wecken. Damit ich leben kann.“ Vielleicht lässt sich der ganze Wahnsinn der Welt so am besten aushalten: im schwerelosen Halbschlaf und umgeben von verwaschenen, flackernden Tocotronic-Gitarren.
Tatsächlich hat man auch beim Hören der neuen Stücke wieder das seltsame, weil seltene Gefühl, dass die Musik dieser Band mit jeder Platte noch besser wird: opulenter geschichtet, raffinierter und stimmungsvoller. Jede Gitarrenmelodie, jedes Geigensäuseln, jeder Refrain scheint zu schweben. Oder zu schwimmen. Im schwelgerischen Liebeslied „Spiralen“ drehen die Melodien Schleifen. In „ Solidarität“ schaukeln Streicher im Takt mit federndem Schlagzeug. In „Zucker“ werden die Fuzz-Gitarren bis auf Theremin-Höhen hinaufgejagt. Immer aber klingt alles sanft, beinahe lichtdurchlässig. Das Schöne an dieser Platte aber ist seine nebulöse Wärme – ein zartes, wohliges Gefühl. Es ist eine spukhafte Wärme, so lieblich und unwägbar wie die Erinnerung an eine alte verflossene Liebe. Man kann sie nicht greifen, nur spüren. Genau wie die Orte, an denen sich die Lieder ausbreiten – punktgenau auf der Schwelle zwischen Surrealismus und Realität.
(Musikexpress)
„Das rote Album“ ist nun der Punkt, an dem das ganze Konstrukt unter der Last der Selbstgewissheit zusammenkracht. Schon „Schall & Wahn“ war ja der Gipfel der Prätention. Die neueste Inkarnation gibt sich zwar wiederum den Anschein, ein musikalischer Meilenstein zu sein, variiert aber nur die bekannten Manierismen. „Wir wollen in unseren Zimmern liegen und knutschen, bis wir müde sind/ Neue Hymnen, alte Lügen werden an ihren Tischen angestimmt/ Wir sind Babys/ Sie verstehen uns nicht/ Wir sind Babys/ Wir spucken ihnen ins Gesicht“, singt von Lowtzow in „Die Erwachsenen“, einer Mischung aus Achtziger-Synth-Rock und Erbauungsschlager. Andere Stücke muten wie Überbleibsel von „Kapitulation“ an, nur mit lyrischen Schnellschüssen. „Ich will keine Treueherzen/ Kannst du mir Liebe geben/ Flucht und Himmelfahrten/ Sind unsere Koordinaten/ Check dich mit mir ein/ Kannst du mich befreien?“, heißt es in „Rebel Boy“. „Zucker“ ist ein munterer Verschnitt aus Violent Femmes und Replacements, „Solidarität“ bedient sich bei „Im Zweifel für den Zweifel“. Akustische Gitarre, Streichquartett und von Lowtzows Lieblingsthema: „unter Spießbürgern Spießrutenlauf“.
Ist das nun süffisant oder doch nur peinliche Pennälerlyrik? Ist diese Mischung aus Kunst und Dilettantismus ironisch gemeint oder dient die Ironie hier bloß dem Zweck, jegliche Kritik abprallen zu lassen?
(Rolling Stone)
Tocotronic live:
08.10. Leipzig – Haus Auensee
09.10. Hannover – Capitol
10.10. Erfurt – Stadtgarten
11.10. Mannheim – Alte Feuerwache
12.10. Zürich, X-Tra
14.10. Saarbrücken – Garage
15.10. Dortmund – FZW
16.10. Bielefeld – Ringlokschuppen
17.10. Hamburg – Sporthalle
21.10. Bremen – Schlachthof
22.10. Rostock – Mau Club
23.10. Berlin – Columbiahalle
06.11. Dresden – Alter Schlachthof
07.11. Linz – Ahoi! Pop 2015
08.11. Graz – Orpheum
09.11. Erlangen – E-Werk
11.11. Köln – E-Werk
12.11. Wiesbaden – Schlachthof
13.11. Stuttgart – LKA Longhorn
14.11. München – Zenith
6 Punkte
AntwortenLöschenSie können es doch noch. Und dann klingen sie auch noch manchmal wie The Smiths oder besser wie Busch, die wie The Smiths klingen.
AntwortenLöschen8,5 Punkte
Toll, toll, toll. 9,5 Punkte
AntwortenLöschenZucker! 9 Punkte...
AntwortenLöschen7.5
AntwortenLöschenImmerhin gibt es hier - nach "Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk" - den zweitbesten Tocotronic-Song: "Date mit Dirk".
AntwortenLöschen7 Punkte