Bereits in seiner Februar-Ausgabe stellte der Musikexpress in der Rubrik "Hot List 2015" Benjamin Clementine vor...
Das Zeug zum Star hat Benjamin Clementine (26), ein Brite, der viel Zeit in Frankreich verbringt. Dort hat er gelernt, dass die Franzosen den Männern am Klavier sehr genau zuhören. Das Chanson-Publikum ist anspruchsvoll. Es will mehr als nur gute Unterhaltung, es will Drama und Existenzialismus. Und Clementine gibt ihnen das. Er trägt Schwarz, eine Turmfrisur und keine Schuhe, hat sich das Klavierspiel beim Hören von Erik Satie selbst beigebracht. Seine Stimme ist dunkel, und wenn sie stolz nach oben geht, liegt der Geist von Edith Piaf in der Luft. In seinen Liedern vermischt er Klassik mit Chanson, Soul mit Jazz. Seine Texte funktionieren auch als Poesie (...). Aber Clementine bleibt immer auch Pop, weil dieser Kerl weiß, wie eine Hookline funktioniert – und sei sie noch so ungewöhnlich. Seinem Stück „Condolence“, dem zentralen Song der EP GLORIOUS YOU, schenkte er elektronische Beats, jedoch ist Benjamin Clementine kein neuer James Blake. Er begibt sich eher auf die Spur der göttlichen Nina Simone. Für ihn und seine Hörer ist das ein Abenteuer.
... und sparte dabei noch zahlreiche erzählenswerte Episoden aus dem Leben Clementines aus: eine schwierige Kindheit als jüngstes von fünf Kindern ghanaischer, streng religiöser Einwanderer in London, der gemobbte Teenager, der sich in die Bibliothek zu Gedichten von William Blake und T. S. Eliot flüchtet, sich das Klavierspielen als Autodidakt beibrachte und früh die Schule schmiss, die Flucht nach Paris, das Leben als Obdachloser, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, in der Métro Coverversionen vorzutragen, die Chansoniers Brel und Aznavour für sich entdeckte und irgendwann selbst entdeckt wurde.
Allein diese Vita wäre berichtenswert - und dann kommen auch noch Clementines ungewöhnliche Stimme, gerne verglichen mit Edith Piaf und Antony Hegarty, sein ausdrucksvolles Pianospiel und sein Händchen für großartige Melodien ("London", "Nemesis", "Condolence") hinzu!
"At Least For Now" ist sein Debütalbum, das sechs ältere Stücke, die bereits auf zwei frühen EPs zu finden waren, sowie sieben neue Lieder kombiniert und mittlerweile auch in Deutschland veröffentlicht wurde. Die Musik konzentriert sich dabei konsequenter Weise auf Benjamin Clementines Stimme und das Piano, lässt Gitarre, Bass und Schlagwerk (oder Fußstampfen auf "St-Clementine-on-Tea-and-Croissants") dezent im Hintergrund stehen und Streicher an den richtigen Stellen groß aufspielen. Zu diesem Kammerpop gesellen sich Ausflüge in Richtung Chanson, Jazz, Soul, Klassik und Spoken Word-Beiträge.
Benjamin Clementine verarbeitet seine Geschichte in wundervollen Gedichten, setzt sich dann ans Piano und lässt sie raus. Mal schreit er, mal wimmert er, manchmal bricht die Stimme fast weg, er singt jedes Wort so, als ob er selbst nicht glauben kann, dass er den ganzen Mist wirklich durchmachen musste. In "Nemesis" geht es beispielsweise um die wüsten Träume von einer gescheiterten Liebe. Dabei fühlt man sich oft hilflos, ist wütend und niedergeschlagen.
Auf Dramatik und Melancholie setzt Benjamin Clementine gerne in seinen Videos, wie man schon an dem zu "Condolence" erkennen konnte. Für den ein oder anderen mag es ein bisschen zu viel Gefühl sein, dem Rest hingegen sprießen die Haarfollikel mindestens fünf Millimeter aus der Haut. Das tolle an seiner Musik ist, dass man es ihm abkauf, Benjamin Clementine wirkt kein bisschen aufgesetzt. Seine Gefühle sind authentisch, fungieren wie ein Katalysator für unsere eigenen Emotionen. Man will beim Anhören flennen, lachen, wie wahnsinnig dirigieren und sich in einer Ecke wie ein Embryo zusammenkrümmen und hin und her schaukeln. Benjamin Clementines Musik ruft auf die Art und Weise eine Katharsis hervor, wie es keine andere Tragödie tun könnte.
Bei "Adios" bringt er das noch auf eine ganz andere Ebene: es wird religiös. Ab Minute 2:06 circa fängt er an, zu den Engeln zu sprechen und stimmt anschließend choral-artigen Gesang ein. (...) Auf At Least for Now experimentiert er generell sehr gerne. "London", zum Beispiel, erinnert irgendwie an eine Disney-Version von "London Calling" - nur halt, dass es umgekehrt ist, Benjamin will seine Heimat ja eigentlich verlassen. "Winston Churchill's Boy" hat durch den Einsatz eines Schlagzeugs ab 2:05 sogar eine leicht elektronische Anmutung. Tolle Überraschung, da er sich bei seiner Musik bislang auf Piano und minimalen Streichereinsatz beschränkt hat.
At Least for Now birgt wahnsinnig viel Variation und Gefühl und ist definitiv eine Platte, die die Alben-Bestenlisten von 2015 anführen wird. Definitiv.
(ego fm)
In wenigen Minuten ein ganzes Leben auf den Punkt zu bringen, das ist die große Aufgabe der Chansonniers. Und das gelingt auch diesem Schlaks, der auf dem Cover ausschaut wie ein bislang unbekannter Sohn der göttlichen Nina Simone – und häufig auch so singt. In „Winston Churchill’s Boy“ geht es um Randolph Churchill, den einzigen Sohn des großen Staatsmannes, einen Dandy, Trinker, Reporter – und tatsächlich später auch Abgeordneten. Den Schatten des Papas wurde er dennoch nie los, und so ist der Song auch eine Fabel, die von allen Söhnen mit starken Vätern handelt: „Don’t you ever judge Winston boy“.
„London“ ist eine autobiografische Erzählung: Clementine verließ die britische Hauptstadt, um sein Glück in Paris zu suchen. Dort spielte er Gitarre in der Metro – und hörte die Sirenen, die zum Abbruch des Abenteuers riefen: „London is all in you, why are you denying the truth.“ Waren die ersten beiden EPs, mit denen sich der Künstler in die Hoffnungslisten für 2015 spielte, meditative und lichtscheue Platten, lässt er auf dem Album mehr Licht an seine Kompositionen. Mehr Pop, weniger Neo-Klassik. Das macht AT LEAST FOR NOW noch immer nicht zu einer einfachen Platte. Aber zu einer sehr guten.
(Musikexpress)
Ich weiß nicht, ob ich schon mein Album des Jahres gefunden habe, aber alle anderen müssen sich jetzt auf jeden Fall enorm anstrengen.
AntwortenLöschen9,5
Der Begeisterung kann ich mich anschließen. 9 Punkte
AntwortenLöschenIch nicht. 6,5 Punkte
AntwortenLöschenDie Singles sind gut, der Rest fällt deutlich ab. 6,5 Punkte
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