Self Esteem - A Complicated Woman


92 Prozent! Damit stand „Prioritise Pleasure“ 2021 auf Platz 2 der Jahres-Charts bei Metacritic und jetzt das! Lediglich ein Metascore von 74/100 ist dort für „A Complicated Woman“, das dritte Album von Self Esteem, verzeichnet.

Die 38-jährige Rebecca Lucy Taylor stand zuletzt im West End als Sally Bowles in einer Neuauflage von „Cabaret“ auf der Bühne und brachte einerseits viel vom Musical mit ins Studio: Orchestrale Streicher! Dramatik! Viel vielstimmiger Chorgesang! („I Do And I Don’t Care“, „The Curse“ oder „Logic, Bitch!“) Andererseits konnte sie sicherlich auch gut ins Londoner Nachtleben eintauchen, so dass auf den 12 Songs bollernde Beats, 90ies Rave und weitere Party-Musik ebenfalls nicht zu kurz kommen („Mother“, „Cheers To Me“, „Lies“, „69“). So darf man sich auf „A Complicated Woman“ sowohl über feministische Vokalakrobatik im Stile von Paris Paloma, als auch über Popsongs zu persönlichen Themen mit beißendem britischem Humor im Stile von Kate Nash oder zeitgeistigen Hyperpop im Stile von Charli XCX erfreuen. Mit Sue Tompkins („Logic, Bitch!“), Moonchild Sanelly („In Plain Sight“) und Nadine Shah („Lies“) gibt es auch drei Feature-Beiträge. 

Beim Hören des Albums denke ich manchmal, dass Madonna mit einer Platte wie dieser noch einmal ein passendes und relevantes Album gelungen wäre - einfach einmal anhand des tanzbaren Elektropop-Songs „69“ mit Gospel-Chor zum Thema Sexstellungen überprüfen!

„A Complicated Woman“ ist als CD, Kassette und LP (black Vinyl, red Vinyl, black and white Vinyl, Picture Disc) erhältlich.


 


   


“A Complicated Woman” ist indeed ein kompliziertes Album – hört man es nun mit Blumenkranz im Haar beim Taumeln durch den Wald oder auf einer kinky Party in einer grauen Metropole? Für beide Szenarien sind genügend Songs vorhanden. Die eine Seite dieses Albums rutscht ans Herz all jener, die mit Paris Palomas Debütalbum “Cacophony” den Niedergang des Patriarchats als Gemeinschaftsprojekt gefeiert haben. Die andere Seite bebt mit reduziertem Gesang vor dunklen Bässen (Banks lässt grüßen!) und möchte vor lauter Brat-Vibes nicht mehr nach Hause.
Was diese Dualität vor allem zeigt: Self Esteem ist eine der begnadetsten Songwriterinnen der Pop-Welt und könnte mit der Opulenz ihrer Arrangements jedes Opernhaus vollkommen ausfüllen. Die Frage wäre nur, welches dieser Häuser auch bereit für Songs über Sexstellungen (“69”) und Zeilen wie “Now toast eaach and every fucker that made me this way” (“Cheers To Me”) ist. Gut funktioniert ihr Sound im theatralischen Kontext auf jeden Fall – sie steuerte den Soundtrack zum Theater-Megaerfolg “Prima Facie” mit Jodie Comer bei. Das war schon sehr prunkvoll!


  


   


A Complicated Woman reflektiert die vielschichtigsten Emotionen, ist aber insgesamt trotzdem durchzogen bzw. bestimmt von einem erhebenden Ton und immer wiederkehrenden choralen Arrangements; und das, obwohl man als Frau momentan durchaus sehr wütend und verzweifelt sein könnte. Das Album passt zu einer Welle an Comebacks weiblicher Künstlerinnen wie z. B. Lady Gaga oder Kesha, die sich nicht direkt am Tagespolitischen abarbeiten und eher auf die Irrungen und Wirrungen der Welt reagieren, indem sie sich introspektiv zurückziehen, ihre eigenen Identitäten, Fragen und Unsicherheiten ästhetisch verhandeln und ihre Verletzlichkeit zugänglich machen. Manchen mag das vielleicht wie Eskapismus vorkommen, macht die Werke aber auch zeitloser und universeller als die schnelllebigen News-Zyklen mit ihren immer neuen täglichen Katastrophen und Empörungen. Außerdem kann es seine ganz eigene Kraft entfalten, in diesen Zeiten Ehrlichkeit und Connection zu priorisieren, ganz im Sinne des Privaten, das auch immer politisch ist. Am Ende von A Complicated Woman kommt man gemeinsam mit Taylor an beim Deep Blue Okay, der Stille, dem Frieden mit sich selbst, in einer gemessenen Euphorie, mit dem Glauben, dass alles okay sein wird; darin liegt der Kern des Albums, in einem realistischen Optimismus, nicht als Realitätsflucht, sondern als einzige nachhaltige Option: Selbstvertrauen als Widerstand.


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