Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Aber was sollte man vor drei Tagen tun, als spontan das neue Album von Nick Cave veröffentli...

Nick Cave & Warren Ellis - Carnage


Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Aber was sollte man vor drei Tagen tun, als spontan das neue Album von Nick Cave veröffentlicht wurde? Bis zum 28. Mai warten, um die Vorfreude zu schüren und „Carnage“ tatsächlich als LP in den Händen halten und auflegen zu können? 

Spätestens die herausragenden Kritiken für das erste Album von Nick Cave und Warren Ellis, das kein Soundtrack ist (seit 2005 hat das Duo rund ein Dutzend Soundtracks gemeinsam erstellt), erleichtern einem dann doch die Entscheidung. „Carnage“ ist ein experimentelles und mutiges Nick Cave And The Bad Seeds Album geworden, nur ohne die Bad Seeds. Reduziert auf den kreativen Kern Cave (Gesang Piano) und Ellis (Geige, Gitarre, Loops und sogar elektronische Beats) entstand im Lockdown so eine acht Song-Sammlung, die sich mit den stärksten Platten von Nick Cave And The Bad Seeds messen lassen kann.

Mit aktuell 93/100 Punkten führt „Carnage“ die Jahres-Gesamtwertung bei Metacritic derzeit an.   


 


Das Album beginnt mit einem pumpenden Wumms, der nahelegt, CARNAGE könnte zum Electronica-Abenteuer werden. Zur Ruhe kommt das Album erst in der zweiten Hälfte. Im ersten Stück „Hand Of God“ widmet sich Nick Cave mit biblischen Versen der Katastrophe, die uns umgibt, lähmt und tötet. Er war schon immer ein Dichter der Apokalypse, seine Metapher von der Hand Gottes, die wie ein Hammer vom Himmel auf uns niederschlägt, zeigt Wirkung: Electro-Goth von einem, der vom Glauben abfällt.
„Old Time“ ist im Kern ein TripHop-Stück, Cave findet sich im Swimming Pool eines Motels wieder, zitiert Jimmy Webbs „By The Time I Went To Phoenix“, das er vor vielen Jahren auf dem Album KICKING AGAINST THE PRICKS gecovert hatte. Warren Ellis entwickelt zu diesen Worten ein brillantes Arrangement: Es tut sich wahnsinnig viel, kleine Effekte, große Streicher, irrer Krach.
Erster Ruhepol ist das Titelstück: „Carnage“ bedeutet Gemetzel, das Lied dagegen ist milde, wunderschön, intim – todtraurig, weil es davon handelt, wie sich das Gefühl des Verlusts im Gedächtnis verankert, „like a raincloud circling over the head“. „Carnage“ wird seinen Platz im Kanon der ganz großen Nick-Cave-Songs finden.


 


Und so mischen sich hier Traumszenen, Erinnerungen, surreale und biblische Bilder zu einer funkelnden Phantasmagorie der Gegenwart. So archaisch Caves Sprache anmutet, aus der Zeit gefallen wirkt sie nie. In der Blues-Suada "Hand of God" klingt das diffuse Bedrohungsgefühl der Pandemie an, im bitterbösen "White Elephant" die Debatten um weißen Rassismus und Cancel Culture. Doch wo Gefahr ist, ist bei Cave auch immer Trost: "And we won't get to anywhere, darling / Anytime this year / And we won't get to anywhere, baby / Unless I dream you there", heißt es in "Albuquerque", dem vielleicht schönsten Song des Albums. Das kann man sentimental finden. Doch nur so lange, bis man begreift, dass Fernweh hier nicht nur geografisch gemeint ist, sondern einer Erinnerung entspringt an ein Kind, "das zwischen zwei Booten schwimmt“.




6 Kommentare:

  1. Dauerschleifenmaterial - 9 punkte

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  2. Auch als Duo überzeugend. 8,5 Punkte

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  3. Ich bin hin und her gerissen. Der Anfang ist grauenhaft, der Titelsong, "Albuquerque" und "Balcony Man" allerdings wunderschön. Der Rest ist mir zu viel Spoken Word denn Song. Als Beschallung in einer wunderschönen großen Kirche würde es wahrscheinlich noch besser bewertet, so

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