"Winter is coming" höre und lese ich ständig. Dabei ist "Winter" schon längst da, seit 112 Tagen, um genau zu sein. Denn am 26. August erschien bereits das 14. Studioalbum von New Model Army, einer Band aus einer beinahe längst vergessenen Epoche, als man neben dieser auch noch The Mission oder The Sisters Of Mercy hörte.
Es wird also Zeit - jetzt, da die Jahreszeit auch zum Albumtitel passt - zu überprüfen, ob es Justin Sullivan gelungen ist ein Album aufzunehmen, das sich mit den frühen Platten messen kann. Wayne Hussey hat dieses Ziel in diesem Jahr (mit "Another Fall From Grace") annähernd erreicht, Andrew Eldritch (letzte Veröffentlichung: "Vision Thing", 1990) wird es vermutlich niemals schaffen.
Hat man sich tatsächlich einmal dazu durchgerungen, "Winter" aufzulegen, gelangt man zu Erkenntnissen wie "13 Songs in 57 Minuten sind etwas zu viel des Guten", "Eine Violine wie zu "Thunder And Consolation"-Zeiten täte jetzt aber wirklich gut" oder "New Model Army sind auch im 36. Jahr noch engagiert, kämpferisch, wütend, eindringlich, roh und rockig".
Frontmann Justin Sullivan lässt so etwas gemeinhin vollkommen kalt, ist es ihm doch schon in den Neunzigern gelungen, die kreative Entwicklung seiner Band von den Gesetzen des Marktes abzukoppeln. Und genau deshalb ist es nur vordergründig überraschend, dass der erste Song den vermeintlich sagenhaft kreativen Titel "Beginning" bekommt – und als dezente Ballade startet. Denn die Nordengländer waren schon immer doppelbödig, wollten immer zwischen den Zeilen verstanden werden. Folgerichtig steigert sich "Beginning" nach den ersten verdutzten Blicken. Und steigert sich. Und steigert sich. Bis das Riff immer hypnotischer wird und die Vokabel "Postrock" immer aufdringlicher wird. Was für ein großartiger Spannungsbogen, was für ein Auftakt.
Der kurz darauf direkt pulverisiert wird. Denn "Burn the castle" ist böse. Richtig böse. Zornig wie lange nicht knurrt Sullivan seine Vocals über peitschende Gitarren, die den Song unerbittlich vorantreiben. Wütender Hardrock aus Bradford? Gabs auch lange nicht. Damit man allerdings ja nicht weiß, woran man ist, werfen die Engländer umgehend den Anker und reduzieren das Tempo. Und lassen den Titeltrack mit wunderbaren Reminiszenzen an die großen Klassiker beginnen. Hier ein kleiner Gruß zum Dreißigjährigen von "51st state", dort eine dezente Erinnerung an "Higher wall", dazu eine dieser so typischen melancholischen Hooks – fertig ist das, was unter normalen Umständen ein veritabler Hit in einschlägigen Clubs geworden wäre. Wenn es denn diese einschlägigen Clubs noch gäbe.
(Plattentests)
Der NMA-Sänger ist nicht einfach nur angepisst oder hat spießige Wutbürger-Emotionen im Bauch. Vielmehr trifft uns sein Zorn biblischen Ausmaßes aus jeder einzelnen Note. Dabei mischt er archaische Bilder finsterer Mittelalter-Zeiten mit dem Horror zeitgenössischen Elends, etwa der Flüchtlingskrise ("Die Trying"): Galgenbäume, brennende Burgen und der Tod auf dem Wasser. Als Chronist der Dämmerung allen Lichts und Philantrop erster Kajüte krönt er seine Flut wichtiger Worte mit dem auffallend zutreffenden "Eyes Get Used To The Darkness".
Die effektiven Toms bleiben ein liebevolles Detail ihres Klangbildes ("Born Feral"). "Drifts" trumpft mit einem Seegang-Rhythmus auf, der sich nach Verklingen im Kopf des Hörers weiter dreht. "Echo November" orientiert sich dagegen stark an Waverock und Postpunk.
(laut)
Selbst im Winter ihrer Karriere lässt sich die Energie der Band nicht leugnen. 7,5 Punkte
AntwortenLöschenThe Mission konnten mich mehr überzeugen. 6,5 Punkte
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