Mein Bruder Joerg hat sich in die Zuckerfabrik begeben:
Ich glaube, ich habe noch über kein Kante-Album geschrieben und tue mich damit auch ein wenig schwer. Ganz einfach, weil mich die stilistische Ungreifbarkeit und Diversität der Band immer ziemlich forderte und, bei aller Euphorie beim Hören von Hits wie „Paradizer“ (auf „Zwischen den Orten“, 1997), „Die Summer der einzelnen Teile“ oder „Im ersten Licht“ (beide auf „Zweilicht“, 2001), zum Teil auch meine Geduld strapazierte. Aber wie das so oft ist, wenn man sich komplett auf eine Sache, eine Person oder ganz einfach eine Band einlässt, wird man am Ende belohnt und findet zwischen den offensichtlich großen Momenten immer wieder neue kleine Perlen. Vermutlich habe ich alle Kante LPs (bis auf das 2007er Album „Kante plays Rhythmus Berlin“, das komplett an mir vorbeiging) hundertfach gehört. Und trotzdem entdecke ich auch jetzt noch musikalische Themen und Sätze, die mir früher nicht aufgefallen waren.
Aber wir waren ja beim aktuellen Longplayer und nicht beim Backkatalog. Zu allererst fiel mir die überraschend große Menge an Stücken auf. Waren auf den Vorgängern immer “nur“ sieben Stücke zu finden, sind es auf „In der Zuckerfabrik“ derer gleich fünfzehn. Ein Kante-Doppelalbum sozusagen. Musikalisch bleiben sich Kante weitestgehend treu, wenngleich einige der Titel noch ein wenig vertrackter daherkommen, als man es gewohnt war. Diese neue Sperrigkeit steht der Band gut und erinnert in manchen Momenten an die großartigen Cpt Kirk &.
Die offensichtlichen Hits, „Wenn ich Dich begehre gegen jede Vernunft“, „Lied von der Zuckerfabrik“ und „Das Erdbeben von Lissabon“, kommen angenehm nah an die späten Blumfeld heran, bei denen Kantes Sänger und Gitarrist Peter Theissen mehrere Jahre Bass spielte.
Textlich bleiben Kante bei der gewohnten Schwere, für die man die Band einfach mögen (wenn nicht lieben) muss. Die Liner-Notes beziehen sich auf Voltaire, Goethe und Brecht, was im Zusammenhang mit der Theatertätigkeit der Band in den vergangenen Jahren durchaus Sinn ergibt und das Album noch mal in ein völlig anderes Licht rückt. Vielleicht sollte ich Presseinfos in Zukunft vor dem Schreiben der Reviews lesen. Vielleicht aber auch nicht.
Man hört einiges an Musik, die ganz offensichtlich nicht für den häuslichen Hörgenuss entwickelt wurde, wie etwa die etwas sperrigen Stücke zu Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ nach der Partitur von Paul Dessau, in denen mal schräg zu jazzigen Versatzstücken gequäkt („Das Lied vom Sankt Nimmerleinstag“), mal zu düsteren Klangatmosphären rezitiert („Arioso der Shen Te“), mal das proletarische Protestlied musikalisch upgedatet wird („Lied vom achten Elefanten“). Andererseits sind da nicht wenige Songs, die uns endlich, endlich diesen typisch satten Kante-Sound zurückbringen. Der eröffnende Titelsong zu Voltaires Romanparodie „Candide oder der Optimismus“ (in welchem Thiessen in die Rolle eines entflohenen Sklaven schlüpft) ist so ein Stück, das mit seinem wuchtigen Drive, seinen Bottleneck-Gitarrensounds, seinen erhabenen Bläserarrangements für all das steht, was das Klangbild dieser Band auszeichnet: Kraft, Opulenz, stilis tische Beweglichkeit, Innovationslust, Liebe zum Detail.
Im Folgenden wird mit „Morgensonne“ aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ der Hochkultur-Muff aus dem Theatersaal gerockt, dass es nur so eine Art hat; wird mit „Das Erdbeben von Lissabon“ ein Langgedicht Voltaires mittels eines derart lässigen Mali-Grooves vertont, dass man schon mal ein Interesse an Langgedichten aus dem 18. Jahrhundert entwickeln kann; werden mit „Donaudelta“ aus dem Handke-Stück die großen Flussdeltas dieser Welt zu einer Musik besungen, die einen auf sanften Harmoniegesangswellen davonträgt; findet sich mit „Wenn ich dich begehre gegen jede Vernunft“ eine Ballade auf diesem Album, die man bereits jetzt guten Gewissens zu den ergreifendsten Liebesliedern dieses Jahres zählen darf. In naher Zukunft soll übrigens ein reguläres Kante-Album folgen.
(musikexpress)
Offenbar wachsen auch einem Thiessen, immer noch einer der besten Texter zwischen Flensburg und Kempten, die Bühnenvorlagen zunehmend über den Kopf. Er zwängt und verbiegt sich, gerne mal zweisprachig, verästelt seine Sätze ins Undurchdringbare, während sich die Band im Hintergrund mit ihren Arrangements am konventionsbrechenden Diktat des Bühnenkontextes abmüht.
Sofern man dies nicht als – schauder – »Kunstprojekt« versteht und wenn der Novelty-Effekt abebbt, bleibt diese Kompilation frustrierend blutleer. Von psychotischer Tropicalia, Tuba-Elefanten, Todesgeistern, Exorzismen nach dem Markus-Evangelium mit Heliumstimme und dem unsäglichen Feuerzeugschunkler »Donaudelta« hat man schneller als erwartet genug gehört. Man freut sich schon auf all die glückselig durcheinander purzelnden Feuilletonkritiker – und steckt demonstrativ Zombi in den Abspielkasten.
(spex)
5,5 Punkte. Mit dem ein oder andern "Hurz" würde das mehr Sinn machen.
AntwortenLöschenDas wäre besser im Giftschrank geblieben. 3,5 Punkte
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