Als würde plötzlich mitten im Oktober ein geschmückter Weihnachtsbaum im Wohnzimmer stehen, darunter einige wenige Präsente, jedoch ohne liebevolles Geschenkpapier und zierende Schleifen, denn dafür fehlte durch die spontan vorgezogene Feier die Zeit: Am 14. Januar informierte Björk auf ihrer Homepage über ihr neues, im März erscheinendes Album. Wenige Tage später wurde "Vulnicura" bereits im Internet geleakt. Am 20. Januar sahen sich Björk und ihr Label, nach regem Treiben hinter den Kulissen, dazu genötigt, das Album über iTunes bereits digital zu veröffentlichen.
"Vulnicura" ist das neunte Studioalbum von Björk, für das sie mit den Produzenten Arca (Kanye West, FKA Twigs) und Bobby Krlic .ak.a. The Haxan Cloak zusammenarbeitete. Musikalisch stellt es eine Rückkehr zu den Klängen von "Homogenic" (1997) dar, setzt somit auf ein Triumvirat, bestehend aus Björks einzigartiger Stimme, schwelgenden, orchestralen Streichern und knisternden, knirschenden und klackenden Beats. Besonders die eröffnenden Songs "Stonemilker", "Lionsong" und "History Of Touches" zeigen Björk von einer Seite, die wir auf ihren letzten Alben schmerzlich vermisst haben. Nur schade für sie, dass erste ihre zerbrochene Beziehung mit dem Künstler Matthew Barney sie wieder zu den emotionalen Streicher-Arrangements zurück brachte. Dies erklärt auch den Titel der Platte, der sich aus den lateinischen Begriffen für Wunde (vulnus) und Heilung (cura) zusammensetzt.
Dass "Vulnicura" mit nur 9 Songs fast eine Stunde lang läuft, liegt auch an "Black Lake", einem zehnminütigen Opus, das in der Mitte der Platte positioniert wurde. Danach werden die Songs etwas weniger melodiös, schwermütig und schwelgerisch und setzen die Tradition der experimentellen elektronischen Klänge ("Notget", "Mouth Mantra", "Quicksand") und schroffen Brüche ("Atom Dance" mit Antony Hegarty) ihrer letzten Alben fort. Letztendlich muss man 14 Jahre zurück gehen, bis zu "Vespertine", um ein besseres Album von Björk zu finden.
Die Kritiken für "Vulnicura" sind, unbefriedigende Veröffentlichungsgeschichte hin oder her, unglaublich gut. Metacritic weist aktuell einen Schnitt von 86/100 Punkten aus und auch im deutschsprachigen Raum wird an Lob kaum gespart:
Bitte sehr: „Stone Milker“, der erste Song der neuen Platte. Schöner kann es nicht werden. Panoramastreicher, so weit das Ohr reicht, und Björk singt dazu unverfälscht über echte Gefühle: Darüber, dass Momente der absoluten Klarheit selten sind. Dass es hübsch wäre, Gefühle zu synchronisieren, die gewohnten Koordinaten wiederzufinden. Einen Stein zu melken, darum geht es. Gefühle zu erzeugen, bei einem Menschen, dessen Herz eingefroren zu sein scheint. Es ist ein Lied über den geheimnisvollen Anfang einer schwierigen Beziehung, und diesem Anfang wohnt tatsächlich ein Zauber inne.
Fünf weitere Songs folgen, in denen Björk die Geschichte dieser Beziehung weitererzählt. „Lion Song“ handelt von der Unmöglichkeit, dieses Herz zu zähmen; in „History Of Touches“ wacht die Protagonistin mitten in der Nacht auf und kuschelt sich an. Björk war in ihren Liedern schon immer daran interessiert, Intellekt und Gefühl zu vereinen. So sehr in Richtung Emotionalität ist ihre Musik jedoch schon lange nicht mehr ausgeschlagen.
Das erste Drittel des Albums ist ein berührendes und erhabenes Erlebnis, dann schlägt die Stimmung um. Es wird düsterer, komplexer, existenzialistischer. „Black Lake“ erhält mittendrin einen pulsierenden Beat, die Körperlichkeit hält Einzug. Co-Produzent Arca hat einen grandiosen Job gemacht, er hält die Balance zwischen den Streichern, den Stimmen und den Beats, die an dieser Stelle immer prominenter werden.
Ein weiterer Bruch auf der Platte ist „Atom Dance“, Song Nummer sieben. Die Beziehung ist vorbei, jetzt startet die Transzendenz. Aus dem Nichts kapert Antony Hegarty als Gastsänger das Stück, es geht um Männlichkeit und Tanz, Natur und Tod. Man wird diese Stücke im letzten Drittel wahrscheinlich nicht so häufig hören wie die vom Anfang, aber sie sind ein wichtiger Teil dieses großartigen Albums, auf dem uns Björk so nahe kommt wie zuletzt auf HOMOGENIC.
(musikexpress)
Gesanglich ist Vulnicura eins ihrer sanftesten Alben geworden. Es gibt keinen dieser Björk-Momente, in denen sie Berggipfel aus Pappmaschee anzuschreien scheint. Am ungewöhnlichsten bleibt, auch nach Jahren in den USA, ihre englische Aussprache. In Mouth Mantra (einem der finalen drei Songs) erzählt sie davon, wie ihr die Stimme genommen wurde, wie sie geknebelt und stumm war. Umso liebevoller geht sie jetzt mit sich um. Selbstverständlich erkennt man sie in ihrer eigensinnigen Fülle trotzdem in jeder Sekunde. Ihre Stimme zieht immer noch jeden Vokal, bis er die Konsonanten um sich überspannt, und ist so sehr Transportmittel für Texte wie wortlos schwingendes Instrument.
Dem hat Björk eine Armee von Streichern zur Seite gestellt. Ganz zu Beginn, als sie ihre Wunden zum ersten Mal vorsichtig betastet, umspielen sie den Schmerz melancholisch, lassen sie keine Sekunde allein und erinnern in all dem persönlichen Drama daran, wer die Meisterin des souveränen Kitsches ist. Danach halten sie sich respektvoll im Hintergrund und treten nur nach vorn, um einzelnen Zeilen anschwellend Nachdruck zu verleihen oder die gespannten Familienbande entschieden zu zersägen. In manchen Momenten suhlt sich Vulnicura in Schwermut, in anderen lassen gezupfte Saiten, Rasseln und ein splitternder Beat den Song fast auseinanderfallen. Gemeinsam mit Arca hat Björk ihr achtes Album geschickt produziert, es rattert und dröhnt in ihrer Brust, und einmal schießt sie sogar Pac-Man-Effekte gegen die Gefühllosigkeit.
Herausragend bleibt aber die Stelle mitten in Atom Dance, zu der Antony Hegarty urplötzlich erscheint, um die verhuschte Ode an die zwei Hemisphären zum Duett zu machen: "No one is a lover alone." Wenn man sich nur eine Zeile von Vulnicura – das schon jetzt völlig zurecht gefeiert wird als Björks bestes Album seit Langem, eins der wichtigsten Alben 2015 und das einzige Album, das man je wieder zum Liebeskummer braucht – ins offene Herz schieben will, bevor es vernarbt, dann diese. Keiner liebt allein. Wenn man die Liebe zum Kunstwerk macht, kann sie sich selbst überdauern. Liebt Björk!
(Zeit)
8 Punkte
AntwortenLöschen7 Punkte.
AntwortenLöschenEndlich nun auf vinyl bekommen (Anfang Mai). Gorssartiges Artwork (wie immer). Keine 180 gramm vinyls auf der anderen Seite. Die passten wohl nicht in die geile verpackung? Erste Pressung war zudem eine MiSpress Geschichte. However: Nett anzuhören, aber auch nicht sensationell.
8,5 Punkte
AntwortenLöschenDas habe ich dann doch seltener gehört als anfangs vermutet.... 7 Punkte
AntwortenLöschenAch Björk
AntwortenLöschen5,5