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7. Oktober 2020

Jónsi - Shiver


Ich hege leichte Zweifel, ob Jónsi die Erfolge bei Platten vor Gericht der letzten Jahre mit seinem zweiten Soloalbum „Shiver“ wird wiederholen können.

2010 wurde sei erster Solo-Ausflug „Go“ mit 8,375 Punkten hier zum Album des Jahres gekürt. Das gleiche Kunststück gelang ihm mit Sigur Rós mit 2002 („( )“) und 2005 („Takk“). „Ágætis byrjun“ war vor der Einberugung des hohen Gerichts erschienen, hätte aber sicherlich auch ganz oben in unserer Endauswertung gestanden.
„Með suð í eyrum við spilum endalaust“ landete 2008 auf Platz 3, „Kveikur“ zuletzt 2013 auf Rang 2. Nur „Valtari“ konnte 2012 nicht überzeugen, sammelte mit 6,929 Punkten als einziges Album der Isländer weniger als 8 Punkte und landete unter „ferner liefen“.

Bei Sigur Rós sind mittlerweile Kjartan Sveinsson und Orri Páll Dýrason ausgestiegen, in den letzten sieben Jahren waren mit „ Óveður „ und „Á“ lediglich zwei reguläre Singles erschienen und Jónsi arbeitete zwischenzeitlich an diversen Projekten, u.a. mit seinem Partner Alex Somers, die deutlich in Richtung Ambient tendierten.

Für „Shiver“, das 11 Songs beinhaltet und in Berlin, Reykjavik, London und Helsinki entstanden ist, arbeitete er nun eng mit dem Produzenten A. G. Cook (PC Music, Charlie XCX) zusammen und lud sich Robyn („Salt Licorice“) sowie Elizabeth Fraser („Cannibal“) als Gastsängerinnen ein. Dabei zeigt sich Jónsi so experimentierfreudig, vielfältig und sprunghaft wie nie zuvor: Elektro-Pop zieht in Richtung Club und wird von Industrial-Experimenten überrollt, sphärischer Dreampop lehnt sich sanft zurück, schließt die Augen, um völlig unerwartet von Elektro Beat-Blitzen getroffen zu werden. Gewagt. Aber zumindest nicht so langweilig wie „Valtari“.     




 


Wo „Wildeye“ noch klingt, als hätten The Knife einen halbwegs geordneten Soundtrack zu „Nachts im Museum“ geschrieben, fliegen in „Kórall“  die Fetzen, jagt der Track durch Tonfragmente und eine Geräuschkulisse, die kaputtes Spielzeug als Ursache nicht ausschließt, wird die Stimme bis zur Unkenntlichkeit durch ein Effekt-Inferno gejagt
Der Multi-Künstler hat sich prominente Unterstützung eingeladen. 4AD-Legende Elizabeth Fraser verpasst der verschlingenden Liebe von „Cannibal“ eine melancholische Dream-Pop-Komponente, und das dissonante Chaos eingangs von „Salt Licorice“ wird mit Hilfe der Schwedin Robyn auf ein Club-taugliches Level transformiert. (…)
Dem Ende zu entschwebt ein „Beautiful Boy“ durch die Lücke zwischen Raum und Zeit. Könnte Jónsi sein. Wir schweben mit.




 


Wie ein Origami-Hase schlägt „Shiver“ unruhig Haken, wechselt mit jedem Knick, jedem Falten, jedem Rhythmuswechsel das Gesicht. Mal experimenteller Elektro-Pop wie in „Salt Licorice“ mit Robyn, mal Schlummerlied („Beautiful Boy“), mal aggressives E-Drum-Massaker („Wildeye“). Damit gelingt Jónsi etwas, das seine Band schon lange nicht mehr schaffte: ein durchweg spannendes Werk.



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