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14. Mai 2016

Jamie-Lee - Berlin























Das wird heute Abend nichts beim Eurovison Song Contest für Jamie-Lee! 
Mein Pessimismus liegt nicht etwa daran, dass mir "Ghost" nicht gefallen würde, ganz im Gegenteil: Die Single der The Voice of Germany-Siegerin ist der beste deutsche Beitrag seit Lena und stellt die schwachen bis entsetzlichen Beiträge von Cascada, Elaiza oder Ann Sophie in den Schatten. 

Der Blick auf die deutschen Charts lässt dunkle Wolken über Stockholm und Jamie-Lee Kriewitz aufziehen, denn "unsere Songs" landeten zuletzt  beim ESC nur dann in den Top 15, wenn sie in den deutschen Single-Charts auf die Plätze 1 bis 3 kamen. Beispiele gefällig? Max Mutzkes "Can't Wait Until Tonight" war Platz 1 in Deutschland und kam 2004 beim ESC auf Rang 8. Texas Lightning ("No No Never", Platz 1 und ESC-Rang 15), Lena mit "Satellite" (1; 1) und "Taken By Stranger" (2; 10) sowie Roman Lob mit "Standing Still" (3; 8) bestätigen diese These. 

Alle anderen Beiträgen der letzten Jahre, manche so schlimm, dass man sich gar nicht an sie erinnern mag (Gracia, Roger Cicero, No Angels, Alex Swings Oscar Sings! sowie die Sängerinnen aus den letzten drei Wettbewerben), landeten in den Single-Charts nicht auf dem Siegertreppchen und beim ESC unter "ferner liefen", also Platz 18 und schlechter. 
Für "Ghost" reichte es in Deutschland übrigens nur für Platz 11. 


Die starke Konkurrenz aus Australien, Belgien, Italien, Frankreich, Schweden sowie die Punkteverschieber aus Russland, Lettland, Litauen und Ukraine werden mit Sicherheit weit vor Deutschland landen. Im schlimmsten Fall sogar Österreich!     

Vielleicht läuft es für die 10 Songs von "Berlin" bei Platten vor Gericht besser: Der Hauptteil der Songs, größtenteils balladesker, Charts-kompatibler Elektro-Pop mit R'n'B-Anteil sowie internationalen Formats, stammt aus der Feder der Songwriterin Anna Leyne, hinzu gesellen sich mit "Home" (Ry X) und "The Hangng Tree" (Jennifer Lawrence) zwei Coverversionen, die von DJ Thomilla so produziert wurden, dass bestimmt von unserem Pop-Versteher Volker viele Punkte kommen werden. 
Germany 8 Points - das werden wir heute Abend wohl nicht zu hören bekommen. Volker, bitte übernehmen!


Widersprüche statt Klischees, das ist Jamie-Lees Stärke. Aber es ist eben auch eine clevere Marketingsstrategie. Heidi Klum würde sagen: "Das Mädchen ist edgy, das mögen die Kunden." Unangepasstheit ist in der Popmusik auch Programm. Keines der zehn Lieder auf "Berlin" stammt von Jamie-Lee selbst: Sie singt Texte, die für sie geschrieben wurden, zu Musik, die andere abgemischt haben. Auch "The Hanging Tree" ist auf dem Album, im Original ein Filmsong aus der "Tribute von Panem"-Reihe, Jennifer Lawrence singt ihn als unwiderstehliche Widerstandskämpferin Katniss Aberdeen. Jamie-Lee trat mit dem Titel bei den "Blind Auditions" von The Voice of Germany an, jener Show, die sie am Ende gewann - unwiderstehlich eben.

Das alles ist gut gemacht, aber am Ende verkauft Jamie-Lee ein Produkt: das seltsame, kämpferische Popmädchen, das sich jene Mädchen zum Vorbild nehmen können, die für ihr Anderssein nicht gefeiert, sondern ausgegrenzt werden. So wird aus dem Coming-of-Age-Song "Lion's Heart" zum Refrain hin eine knallige Pophymne. Nur gebrochene Knochen, nichts, was nicht wieder heilen würde, versichert Jamie-Lee ihren Hörerinnen - und setzt dann zum bombastischen "Hallelujah" an.
(Süddeutsche Zeitung)




"Lions Heart" sorgt hingegen schon für Stirnfalten. Im "Hallelujaaaaaah"-Reißbrett-Chorus (immerhin kein weiteres Leonard Cohen-Cover) werden erste Spuren plastischen Gesangspitchings hörbar. Echtes Autotune ersparen uns die Produzenten zwar über weite Strecken, doch ganz ohne Handgreiflichkeiten an der Vokalspur kommt die moderne Popproduktion dann nicht aus.

Während Coldplay und Mando Diao in ihrem verbissenen Glauben, Vocoder seien endlich wieder für Popmusik geeignet, durchaus brauchbares Material zustande gebracht haben, vergreift sich Thomilla auch gerne einmal zu oft am Retro-Plugin. Besonders "Mine" meistert dank Stakkato-Synthies und Blubber-Outro den perfekten Stabhochsprung in die Kloschüssel, der nur noch vom Nicki Minaj-Rappart in "Wild Ones" übertroffen wird.

Dabei steht schon länger außer Frage, dass Jamie-Lee für ihr Alter eine erstaunliche Stimmbeherrschung an den Tag legt. Konnte sie schon bei den Casting-Auditions mit Jennifer Lawrence' "The Hanging Tree" überzeugen, versprüht auch die Album-Version wieder den Charme ihrer tieferen Tonlage. Könnte echt Laune machen, würden die Stampf-und-Klatsch-Beats dem Textmantra nicht jeden Hauch Epik rauben. Bezeichnend übrigens, dass Lawrence selbst das Herzstück des "Tribute von Panem"-Soundtracks lieber Lorde interpretieren ließ. Dabei singt Kriewitz diese in ausgewählten Momenten tatsächlich auch einmal an die Wand: Die halbelektronische Pianoballade "Visions" bleibt dank vollem Stimmumfang nach "Ghost" als zweitbester Song im Ohr.
(laut)

2 Kommentare:

  1. Sooo schlimm hatte ich das Endergebnis aber nicht erwartet!

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  2. Peinlichstes Lieblingslied des Jahres: "Ghost". Und jetzt bitte, wie bei "Chandelier", die "Das ist doch nicht peinlich, sondern toll!"-Rufe von Oliver und Volker. 6,5 Punkte

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